
Gehirnerschütterung mit Folgen: Ex-Handballtorhüterin Pauline Radke kämpft sich in Alltag zurück
Gehirnerschütterung mit Folgen: Ex-Handballtorhüterin Pauline Radke kämpft sich in Alltag zurück
Gehirnerschütterungen im Sport sind eine unterschätzte Gefahr, die jedoch gravierende Folgen haben können: Die ehemalige Handball-Torhüterin Pauline Radke erlitt in ihrer Karriere wiederholt Kopftreffer, jetzt leidet sie am postkommotionellen Syndrom. Mit Unterstützung der ZNS – Hannelore Kohl Stiftung kämpft sich die 33-Jährige in den Alltag zurück - und wirbt für eine Sensibilisierung im Umgang mit Gehirnerschütterungen.
Es ist der 08. Juni 2019, als sich das Leben von Pauline Radke abrupt ändert: Die 33-Jährige schlägt nach einem Kreislaufzusammenbruch mit dem Hinterkopf auf Steinboden auf. Es ist nicht die erste Gehirnerschütterung, die sich die ehemalige Handball-Bundesligatorhüterin zuzieht; in ihrer Karriere kassierte Radke mehrere Kopftreffer. Die Symptome werden diesmal jedoch nicht besser, nach einer Ärzte-Odyssee erhält sie schließlich die Diagnose: Postkommotionelles Syndrom, ausgelöst durch die wiederholten Gehirnerschütterungen. Hilfe findet die 33-Jährige schließlich bei der Hannelore Kohl Stiftung, die sich für Menschen mit Schädelhirnverletzungen einsetzt. Jetzt kämpft Radke sich zurück in ihren Alltag - und wirbt für eine Sensibilisierung im Umgang mit Gehirnerschütterungen.
Müdigkeit, Kopfschmerzen, Panikattaken
Zwölf Wochen nach dem Unfall steht Radke in der Sportschule Duisburg-Wedau und macht Tai Chi Chuan. Konzentriert geht die ehemalige Leistungssportlerin gemeinsam mit den anderen Teilnehmenden die sanften Bewegungen durch, die Kopf und Körper gleichermaßen fordern. Der Workshop ist Teil eines Fußballseminars, dass die ZNS Akademie der Hannelore Kohl Stiftung in Kooperation mit der DFB-Stiftung Sepp Herberger für Menschen mit erworbenen Schädelhirnverletzungen anbietet. Radke hat sich die Teilnahme lange überlegt, nach drei Tagen in Duisburg sind die Zweifel verflogen: „Mir haben das Seminar und der Austausch sehr geholfen, weil hier jeder versteht, was in einem vorgeht.“
Im Alltag sieht das anders aus: Radke hat nicht nur mit den Kopfschmerzen, der Müdigkeit, den Panikattacken und den Konzentrationsstörungen - den Symptomen ihrer Verletzung - zu kämpfen, sondern auch mit Unverständnis. Dass sie seit zwölf Wochen krank geschrieben ist, kann „keiner nachvollziehen, weil ich nicht offensichtlich krank bin - ich habe halt keinen Gipsarm oder so“, stellt sie resigniert fest. „Wenn ich versuche, zu erklären, kommt als Reaktion häufig: Eine Gehirnerschütterung dauert doch keine zwölf Wochen!“
44.0000 Schädel-Hirn-Trauma durch Sport – jedes Jahr
Markus Frechen kennt solche Erzählungen zur Genüge. Der Diplom-Psychologe leitet seit 15 Jahren Seminare für die Hannelore Kohl Stiftung und ist in Duisburg der „emotionale Ansprechpartner“ - wie er es selbst nennt - für die Teilnehmenden. „Schädel-Hirn-Traumata sind oft unsichtbare Störungen, für die es in der Allgemeinheit wenig Verständnis und Hilfe gibt“, weiß der Psychologe. „Es herrscht ganz viel Unkenntnis; auch, weil das Störungsbild so vielfältig ist.“ Die Aufklärung bleibt daher oft den Betroffenen selbst überlassen - wie Radke. Sie sagt: „Es ist belastend und kostet unheimlich viel Kraft, sich immer wieder zu erklären.“
Insgesamt erleiden jährlich 270.000 Menschen in Deutschland ein Schädel-Hirn-Trauma, alleine im Sport werden jedes Jahr rund 44.000 Gehirnerschütterungen diagnostiziert. Nach Schätzungen der Hannelore Kohl Stiftung, die sich mit der Initiative ‚Schütz deinen Kopf! Gehirnerschütterungen im Sport’ für Prävention und Aufklärung einsetzt, liegt die Dunkelziffer rund dreimal so hoch. Der Grund liegt neben der Unkenntnis bei Spielern und Trainer vor allem im Wunsch der Sportler begründet, wieder auf den Platz zurückzukehren, Radke nennt es „Sportlerehrgeiz“.
Kopftreffer nicht ernst genommen
„Es ging mir wie den meisten Sportlern - und gerade Torhütern: Nach einem Kopftreffer hatte man zwar Kopfschmerzen, aber man wollte so schnell wie möglich wieder ins Training und auch das nächste Spiel wieder spielen“, erinnert sich Radke rückblickend und gesteht: „Man hat das, da bin ich ehrlich, einfach nicht ernst genommen.“ 17 Jahre hatte sich Radke dem Leistungshandball verschrieben, wie viele Kopftreffer sie in dieser Zeit kassierte, weiß sie nicht. Zuletzt stand sie sechs Jahre für die HSG Bensheim/Auerbach zwischen den Pfosten und stieg mit dem Verein zweimal in die 1. Bundesliga auf, bevor sie im vergangenen Jahr ihre Karriere beendete.
Der Zusammenhang zwischen dem postkommotionellen Syndrom und den Gehirnerschütterungen im Laufe ihrer Karriere liegt nahe. „Das Syndrom könnte gerade deshalb aufgetreten sein, weil es nicht die erste Gehirnerschütterung war“, sagt Radke. Seit dem Unfall leidet sie unter den Folgen, ein normaler Alltag ist für sie nicht möglich. „Es ist manchmal wie Watte im Kopf oder auch wie ein Juckreiz, den man sich am liebsten aus dem Kopf reißen möchte“, versucht sie das Gefühl zu beschreiben. Die Behandlung? „Ruhe und Geduld.“
Langfristige Pläne sind nicht möglich
Lesen, Fernsehen, Einkaufen: Einfache Tätigkeiten wie diese sind für Radke aktuell große Herausforderungen. „Man muss akzeptieren, dass es gute und schlechte Tage gibt“, sagt sie. Inzwischen geht es - auch dank der Unterstützung der Hannelore Kohl Stiftung - langsam aufwärts, Radke kann beispielsweise wieder Auto fahren. Drei Wochen verbrachte sie jedoch in der Heimat bei ihren Eltern, weil ihr der Alltag zu viel wurde. Der Rückhalt bedeutet der 33-Jährigen viel - auch, wenn es für ihre Familie nicht leicht ist: „Einen Menschen, der vor einem Jahr noch in der Bundesliga Handball gespielt hat und mitten im Leben stand, verzweifelt und wie ein Häufchen Elend zu sehen, ist schwierig.“
Die Heilung vom postkommotionellen Syndrom kann bis zu einem Dreivierteljahr dauern, aber Radke weiß: „Auch danach können immer mal wieder Symptome auftauchen.“ Langfristige Pläne macht sie daher nicht, wann die Wiedereingliederung auf der Arbeit möglich ist, steht in den Sternen. „Ich möchte gerne arbeiten, aber ich merke, dass es einfach noch zu früh ist“, sagt die 33-Jährige, die als Teamassistentin bei einem Unternehmen in Bensheim angestellt ist. „Ich gucke aktuell von Tag zu Tag.“
Aufklärung im Sport muss besser werden
Für die Zukunft wünscht sich Radke - außer „so schnell wie möglich wieder fitter zu werden“ - einen sensibleren Umgang mit Schädelhirnverletzungen. „Ich war bei so vielen Ärzten, die das Syndrom nicht kannten und mir nicht helfen konnten“, erklärt Radke. „Daher ist es aus meiner Sicht sehr wichtig, Aufklärungsarbeit zu leisten.“ Auch und gerade im Sport wäre es aus Sicht der ehemaligen Handball-Torhüterin wichtig. „Sportler, Trainer und auch Physiotherapeuten müssten besser aufgeklärt werden, was Anzeichen und Symptome sind“, unterstreicht Radke. „Es wäre auch wichtig, dass Sportler mehr geschützt werden - auch vor sich selbst und dem eigenen Ehrgeiz.“
Es ist ein Ansinnen, dass sich auch Dr. Andreas Gonschorek auf die Fahnen geschrieben hat. Der Chefarzt des Neurotraumatologischen Zentrum am BG-Klinikum in Hamburg wirbt seit Jahren für einen aufmerksamen Umgang mit Schädelhirnverletzungen. „Es gab einen großen Wissenszuwachs, aber diese Erkenntnisse auch im Sport zu verankern, ist immer noch sehr schwierig“, erklärt Gonschorek. „Es muss anerkannt werden, dass eine Gehirnerschütterung eine ernsthafte Verletzung ist, deren Folgen komplex sind und die daher interdisziplinär behandelt werden muss.“
Initiative "Schütz deinen Kopf"
Neben einer Zusammenarbeit von Mannschaftsärzten mit Neurologen gehört für Gonschorek auch der Schutz der Spieler vor sich selbst zu einem guten ‚Concussion-Management‘ (concussion = eng. für Gehirnerschütterung). „Der Spieler darf, wenn der Verdacht auf eine Gehirnerschütterung besteht, auf gar keinen Fall selbst entscheiden, dass er weiterspielt“, betont Gonschorek. „Das Adrenalin ist gerade im Wettkampf hoch - und ein Sportler kann, weil die Verletzung sein Gehirn betrifft, gar nicht einschätzen, wie stark er tatsächlich betroffen ist.“
Der renommierte Neurologe warnt eindringlich davor, Gehirnerschütterungen zu unterschätzen. „10 bis 20 Prozent der Betroffenen entwickeln nach einer Gehirnerschütterung längerfristig Probleme“, so Gonschorek. Dass es im Leistungssport für die Vereine und Spieler um viel geht, weiß der Arzt: „Daher muss unbedingt ein Bewusstsein für die Gefahr geschaffen werden.“
Mit Plakaten, einer App sowie Informationsmaterial für Sportler, Trainer, Physiotherapeuten, Lehrer und Eltern will die Initiative ‚Schütz deinen Kopf‘ (www.schuetzdeinenkopf.de), die auch von Gonschorek unterstützt, genau das erreichen. „Viele Vereine interessiert das Thema noch nicht, aber das ist eine fahrlässige Einstellung“, ärgert sich Psychologe Frechen. Er wird sich wie genauso Gonschorek daher weiterhin für die Aufklärungsarbeit einsetzen, denn „es geht schlicht und einfach um den Schutz der Sportler.“ Auch Radke stimmt zu: „Ich würde mir wünschen, dass diese Problematik im Sport ein Thema wird.“
Hintergrund: Die ZNS – Hannelore Kohl Stiftung
Die ZNS – Hannelore Kohl Stiftung für Verletzte mit Schäden des Zentralen Nervensystems mit Sitz in Bonn wurde 1983 von Frau Dr. med. h.c. Hannelore Kohl ins Leben gerufen. Die Stiftung unterhält einen Beratungs- und Informationsdienst für Schädelhirnverletzte und deren Angehörige, unterstützt bei der Suche nach geeigneten Rehabilitationseinrichtungen und fördert die wissenschaftliche Forschung auf dem Gebiet der Neurologischen Rehabilitation. Sie engagiert sich in der Präventionsarbeit für Unfallverhütung. Bis heute konnten über 31 Mio. Euro aus Spendenmitteln für über 675 Projekte an Kliniken, Institutionen und Rehabilitationseinrichtungen in Deutschland weitergegeben werden. Jedes Jahr erleiden rund 270.000 Menschen Schädelhirntraumen, knapp die Hälfte von ihnen ist jünger als 25 Jahre. Dank der medizinischen Fortschritte kann vielen von ihnen geholfen werden.
Erschienen in Handball am 07. September 2019
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