Frauen und Spitzensport in der Schweiz: ,Der Weg ist noch lang'

ExklusivWo stehen Frauen im Spitzensport im Jahr 2020? Mit dieser Frage beschäftigen sich Sportverbände weltweit. Auch das Nationale Olympische Komitee der Schweiz Swiss Olympic, die Ende 2019 eine Projektgruppe zu Frauenthemen im Spitzensport gründete. Wir haben mit deren Leiterin und Marathonläuferin Maja Neuenschwander über die Initiative und Frauen im Spitzensport gesprochen.

Frauenspezifische Themen wie Menstruationszyklus oder Schwangerschaft werden noch immer zu wenig thematisiert und diskutiert im Spitzensport. Dabei ist das Wissen über diese Bereiche von zentraler Bedeutung, wenn das Training und die Leistungsfähigkeit einer Athletin optimiert werden sollen. Der Dachverband des Schweizer Sport Swiss Olympic hat sich deshalb die Frauenförderung im Sport auf die Fahne geschrieben und im November 2019 die Projektgruppe „Frau und Spitzensport“ gegründet.

Mit einer Kampagne will Swiss Olympic dem Thema durch verschiedene Maßnahmen erhöhte Aufmerksamkeit verschaffen und es nachhaltig in der Spitzensportförderung der Schweiz etablieren. Deshalb fand jüngst auch eine digitale Fachtagung unter dem Titel „Frau und Spitzensport“ statt. Was es mit der Initiative auf sich hat, welche Maßnahmen zukünftig geplant sind und wie es um die Gleichstellung im Sport steht, hat uns die Schweizer Marathonläuferin Maja Neuenschwander als Leiterin der Projektgruppe im Interview erzählt.

Seit November 2019 gibt es in der Schweiz die Projektgruppe „Frau und Spitzensport“ , dessen Leitung Sie übernommen haben. Wie ist das Ganze entstanden und welche Aufgaben hat die Arbeitsgruppe?

„Entstanden ist das Ganze auf Initiative unseres Delegationsarztes und des Chefs der Olympischen Missionen. Im Sommer 2019, vor ziemlich genau einem Jahr, haben wir uns gemeinsam für einen ersten Austausch getroffen. Dabei waren die wichtigsten Protagonistinnen und Vertreterinnen des Schweizer Sports, also Sportärztinnen, Sportphysiotherapeutinnen, Sportpsychologinnen aber auch Ernährungsexpertinnen und eben auch Athletinnen und Coaches. Gemeinsam haben wir einen Tag lang über die aktuelle Situation der Athletinnen im Schweizer Sport diskutiert und abgeschätzt, wo welche Bedürfnisse vorhanden sind aber auch, ob generell ein Interesse daran besteht, in diese Richtung weiterzustoßen. Das Ergebnis dieses intensiven Austausches war die Formulierung erster Maßnahmen und Themenschwerpunkte mit dessen Umsetzung wir jetzt im ersten halben Jahr der Initiative begonnen haben.“

Was sind die Themenschwerpunkte, über die Sie sich verständigt haben?

„Wir haben drei Fokusthemen definiert: Menstruationszyklus, Schwangerschaft und das relative Energiedefizit-Syndrom (RED-S). Diese Leitthemen haben wir dann begonnen aufzuarbeiten. Wir haben Infografiken dazu erstellt, mit denen wir jetzt versuchen, zu informieren und zu sensibilisieren.“

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Wie ging es dann weiter?

„Uns war dann relativ schnell klar, dass es im Juni 2020 eine Fachtagung zu den Themen geben soll. Wir haben auch überlegt, wie und womit wir welche Zielgruppe erreichen können. Während der sportliche Erfolg bei Olympischen Spielen in der Schweiz inzwischen „weiblich“ ist, bewegen sich die Spitzenathletinnen in einem Sportumfeld, das stark männlich geprägt ist. Ich denke, das ist in Deutschland auch nicht viel anders. Um dem entgegenzuwirken haben wir zwei Kanäle eröffnet. Zum einen direkt zu den Athletinnen, wofür wir eine Podcast-Serie und Blogstorys zu den Fokusthemen mit Schweizer Athletinnen gestartet haben, die offen über ihre Erfahrungen gesprochen haben. Auf der anderen Seite versuchen wir das Umfeld der Sportlerinnen zu erreichen. Mit dieser Fachtagung, mit den Infografiken und auch mit dem Podcast.“

Während der sportliche Erfolg bei Olympischen Spielen in der Schweiz inzwischen „weiblich“ ist, bewegen sich die Spitzenathletinnen in einem Sportumfeld, das stark männlich geprägt ist.

Sie sprechen die Fachtagungen „Frau und Spitzensport“ an, die jüngst auf Grund von Corona digital, stattfand. Können Sie kurz zusammenfassen, worum es bei der Tagung ging und was die Ergebnisse sind?“

„Also wie der Name schon sagt, war es unsere Idee, einen Austausch im Thema zu initiieren. Ziel war es, das sportliche Umfeld der Athletinnen zusammenzubringen und sie näher in und an die Thematik zu führen. Die Idee lag darin, die Fokusthemen Zyklus, Schwangerschaft, die Thematik des gendergerechten Trainings, sowie RES-S und auch Verhütung zu vertiefen.“

Wie waren die Rückmeldungen auf die Tagung?

„Für uns war es sehr erfolgreich. Es haben sich fast 250 Personen angemeldet. Die Rückmeldungen waren äußerst positiv. Es bestärkt uns, einen guten Weg eingeschlagen zu haben.“

Die Schweizer Presse, unter anderem die Luzerner Zeitung, titelte anlässlich der Tagung „Der Schweizer Sport entdeckt endlich die Frauen“. Was würden Sie sagen, wo stehen Frauen im Spitzensport im Jahr 2020 in der Schweiz?

„Ich denke, man muss hier differenzieren zwischen den Athletinnen und deren sportlichem Umfeld. Während der Frauenanteil des Swiss Olympic Teams in den letzten Jahren fast auf 50% gestiegen ist, die Frauen hinsichtlich Medaillen und Diplomränge die Männer gar „überholten“, ist diese Entwicklung im sportlichen Umfeld nicht zu erkennen. Auf dieser Seite sieht es hinsichtlich Gleichstellung noch sehr düster aus. Aktuell ist es aber so, dass unser Projekt auf Ebene Leistungserbringung und Gesundheit ausgerichtet ist und die organisatorische Ebene (noch) nicht berücksichtigt. Ich denke aber, das wird jetzt Diskussion des nächsten halben Jahres werden, dass wir eben auch in diesen Bereich reingehen. In der Schweiz haben auf Verbandsebene nicht einmal zehn Prozent der Sportverbände eine Frau als Präsidentin. Ich denke, das ist ein bisschen auch die Schweiz. Wir haben hier auch erst vor 50 Jahren das Frauenstimmrecht eingeführt. Also „it takes time“ und der Weg ist noch lang.“

Woran liegt es ihrer Meinung nach, dass frauenspezifische Themen wie Schwangerschaft, Verhütung und der weibliche Zyklus im Spitzensport immer noch Tabu-Themen sind?

„Ich denke die Grundproblematik ist einfach, dass der Sport sehr lange wirklich männlich dominiert war, und zwar auch nicht nur auf organisatorischer Ebene, sondern auch bezüglich Partizipation. Es hat lange gedauert, bis Frauen im Sport akzeptiert wurden. Die ersten Olympischen Spiele mit Frauen sind noch nicht einmal hundert Jahre her. Die Frau und der weibliche Körper wurden lange Zeit immer wieder als defizitär angeschaut. Es wurde immer wieder darüber berichtet, dass, wenn eine Frau sich sportlich betätigt, dies negative Auswirkungen auf ihre Gesundheit hätte. Hinzu kommt die Umfeld-Problematik, also dass kaum eine Athletin mit einem Mann bzw. mit ihrem Coach über die intimen Themen sprechen wollte. Da braucht es Offenheit und Sensibilität, es braucht eine Enttabuisierung, eine Entkrampfung dieser Themen. Ich denke dieses Bewusstsein, dass das wichtig ist, ist erst in den letzten Jahren gewachsen.“

Die Frau und der weibliche Körper wurden lange Zeit immer wieder als defizitär angeschaut. Es wurde immer wieder darüber berichtet, dass, wenn eine Frau sich sportlich betätigt, dies negative Auswirkungen auf ihre Gesundheit hätte.

Was sollte sich hier in Zukunft ändern?

„Positiv ist schon mal, die Erkenntnis, dass diese Faktoren wirklich entscheidend sind bei der Leistungsoptimierung. Bezüglich „Wissen“ gibt es aber immer noch sehr große Lücken. Wenn wir schauen, wie viele sportwissenschaftliche Studien rein mit weiblichen Probandinnen durchgeführt werden, sind wir immer noch weit von zehn Prozent entfernt. Spitzensport ist irgendeinmal limitiert, also bezüglich Material, bezüglich Training. Wenn das alles nur am Mann ausgerichtet ist und erforscht wurde, ist jetzt natürlich auch die Erkenntnis da, dass da unglaubliches Potenzial bei dem was noch alles erreicht werden könnte besteht, wenn jetzt quasi die Frau auch mal als Frau betrachtet wird.“

Es scheint zudem oft schwer, zurückgetretene Spitzensportlerinnen im Sport zu halten. Eine Trainerlaufbahn können sich viele nur selten vorstellen, höchstens im Kinder- und Jugendbereich. Wie kann man Frauen dafür gewinnen, die männlichen Strukturen aufzubrechen und führende Positionen im Spitzensport zu übernehmen?

„Wenn diese Frage beantwortet werden könnte, dann wären wir super glücklich und dann würde sich die Situation relativ rasch verändern. Das ist wirklich die Knacknuss, an der sich wahrscheinlich ganz viele Nationen schwertun. Das ist eine Strukturfrage. Gerade im Trainerwesen lassen sich die unregelmäßigen Arbeitszeiten und die vielen Abwesenheit nur schwer kombinieren, wenn ein Familienwunsch da ist und eine Familie gegründet werden möchte. Und Sport lässt sich auch nur entfernt mit Politik vergleichen, wo in einem bestimmten Zyklus Wahlen stattfinden und eine neue Zusammensetzung von relativ vielen Leuten gewählt werden kann. Sport funktioniert so, dass man aus dem Netzwerk Leute mitnimmt und Leute für Posten nominiert oder vorschlägt. Die werden dann quasi abgenickt, weil es meist nicht zu Kampfwahlen kommt. Ich denke irgendwo muss dieses ganze Denken durchbrochen werden. Es müssen sich dann natürlich auch Frauen zur Verfügung stellen, die überhaupt in diese Positionen kommen wollen. Leider gehen viele zurückgetretene Sportlerinnen aus dem Sport heraus und bleiben ihm nicht erhalten. Eine Lösung habe ich da nicht, das ist wirklich sehr komplex das Ganze.“

Leider gehen viele zurückgetretene Sportlerinnen aus dem Sport heraus und bleiben ihm nicht erhalten. Eine Lösung habe ich da nicht, das ist wirklich sehr komplex das Ganze.

Wie groß ist der Graben zwischen dem, was sich Sportlerinnen wünschen und ihren Bedürfnissen und dem aktuellen Ist-Zustand mit Blick auf den Schweizer Sport?

„Mit den Wünschen ist das so eine Sache. Oft stellen wir fest, dass eine Athletin ihre Wünsche erst retroperspektiv äußert. Von aktiver Seite erhalten wir aktuell noch relativ wenig Feedback. Sprich was ist gewünscht, in welche Richtung soll es gehen? Wir profitieren eigentlich mehr von zurückgetretenen Athletinnen, die mit ein bisschen Distanz auf die ganze Karriere zurückblicken können. Erfreulich ist jetzt zumindest, dass beim neu aufgebauten Beratungsangebot eine Zunahme von Anfragen festzustellen ist. In den letzten Monaten ist wirklich so ein bisschen das Eis geschmolzen, dass die Kontaktaufnahme auch durch aktive Athletinnen erfolgt. Da bin ich wirklich gespannt, ob das jetzt nur so eine kurze Phase ist oder ob das auch so weitergeht. Ich denke, je mehr wir kommunizieren und informieren, je mehr wir unsere Botschaft multiplizieren können, umso besser und umso mehr können wir dann auch erreichen, dass die Möglichkeit wahrgenommen wird, Bedürfnisse zu formulieren.“

Wie sind Ihre eigenen Erfahrungen aus dem Sport rund um männliche Trainer und Betreuer sowie mit der gesamten Thematik?

„Ich bin da wirklich auch ein schlechtes Beispiel. Ich habe mir bis vor gut einem Jahr überhaupt keine Gedanken über dieses Thema gemacht. Für mich war klar, beim Ausdauersport – ich bin ja Marathonläufer – spielt das keine Rolle, wie ich trainiere. Ich hatte zyklusbedingt meine Ups und Downs, habe das aber nicht groß im Training berücksichtigt. Eigentlich wäre es jetzt schon nochmal spannend, wenn ich jetzt noch einmal zehn Jahre zurückgehen könnte und mit dem neuen Wissen mal ausprobieren könnte, was es schlussendlich auch ausmacht.“

Was sind die nächsten Schritte der Arbeitsgruppe Frauenthemen im Spitzensport?

„Zunächst möchten wir durch eine Umfrage Feedback zur Fachtagung einholen. Insbesondere bezüglich der Formate aber auch der Themenauswahl und der Frage, was noch gewünscht ist und was vertieft werden müsste. Das gesamte Projekt ist auf drei Jahre angedacht. Im August und September werden wir eine zweite Welle an Podcasts starten. Außerdem möchten wir gerne Athletinnen mit Videoblogs porträtieren und dort frauenspezifische Themen ansprechen, damit nicht alles nur schriftlich daherkommt.“

Was wünschen Sie sich für den Frauensport für die Zukunft?

„Ich wünsche mir eine ausgewogene und gemeinsame Gestaltung der gesamten Sportlandschaft durch Frauen und Männer. Sei es jetzt national in der Schweiz oder auch international.“

Vielen Dank für das Interview.

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Jana Glose

Jana Glose

Erschienen in Frauen im Sportbusiness, Leichtathletik am 09. Juli 2020

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