Rezension: Claudia Neumann sucht das moderne Deutschland

Fußball-Fans werden es lieben, Feministinnen vielleicht enttäuscht sein: Wir haben einen Blick in das erste Buch von Sportmoderatorin Claudia Neumann geworfen und verraten euch, welche Erfahrungen sie auf der Suche nach dem modernen Deutschland gemacht hat.

Ich habe Herzklopfen und das ist vielleicht noch etwas untertrieben. Angespannt sitze ich vor meinem Laptop und warte auf Claudia Neumann. Ihres Zeichens ZDF-Sportreporterin, Fußball-Kommentatorin, „Fan des Spiels“ mit Leib und Seele und jetzt auch Autorin. Anfang des Jahres hat sie das Buch „Hat die überhaupt `ne Erlaubnis sich außerhalb der Küche aufzuhalten?“ veröffentlicht. Als Referentin im Landessportbund Nordrhein-Westfalen plane ich eine Online-Lesung mit Claudia Neumann und habe sie für ein Technik-Briefing eingeladen. Für Sportfrauen.net schreibe ich eine Rezession über ihr neues Buch.

Freitag, 15.05.2020, 10:03 Uhr, Frau Neumann „klopft“ an und ich lasse sie „eintreten“. Da ist sie und es fühlt sich an, als würde sie mir durch die Kamera direkt in die Augen schauen. „Hallo Frau Stahl“ höre ich ihre Stimme durch meinen Computerlautsprecher. Ich fühle mich als Gast des ZDF-Sportstudios. Diesen Moment empfinde ich als surreal, da ihre Stimme mir vertraut ist. Ich habe das Gefühl, Frau Neumann zu kennen, und hätte schon das ein oder andere Bier gemeinsam mit ihr nach einem Fußball-Spiel getrunken. Ich nehme mir vor, die Rezession mit viel Abstand und ohne Promi-Brille zu schreiben.

Wie modern ist Deutschland wirklich?

„Wie modern ist Deutschland wirklich?“ steht auf der Rückseite des Buches. Eine Frage, welche die Leser:innen durch die komplette Lektüre begleitet. In sechs Kapiteln resümiert Claudia Neumann die Nachwehen der Fußball-WM 2018 und deren Shitstorm, perfektioniert ihren Fall-Rückzieher, dribbelt durch ihre Kindheit und Ran-Zeit bei Sat1, steht zu einer offenen Fehlerkultur, prangert die Verrohrung der Gesellschaft an, schreibt über Frauenfußball und Fußballfrauen und wagt einen Blick in die Zukunft.

Was sich nach einem spannenden Ritt anhört, ist auch einer. Claudia Neumann findet durch den Bruder die Liebe zum Ball. Sie wächst auf in einer Zeit, in welcher Frauenfußball tatsächlich noch verboten ist. Eindrücklich schreibt sie über ihre Liebe zum 1. FC Köln, das Finale der Weltmeisterschaft 1974 und das Verbot der Eltern, im lokalen Fußballverein offiziell mitzuspielen.

Perspektivwechsel mit Blick hinter die Kulissen

Die Fußball-Weltmeisterschaft 1990 wird zum Schlüsselerlebnis für die angehende Sportwissenschaftlerin und der Berufswunsch Sportreporterin manifestiert sich. Es liest sich schon fast wie ein Märchen, wenn die junge Claudia Neumann drei Wochen nach ihrer Bewerbung eine postalisch-übermittelte positive Rückmeldung aus der RTLplus-Sportredaktion erhält. Der Perspektivwechsel mit dem Blick hinter die Kulissen, den Claudia Neumann den Leser:innen offeriert, ist spannend. So folgt auf RTLplus die Zeit bei Ran – und Frau Neumann ist ein Teil der medialen Fußball-Revolution.

Das Buch lässt durchscheinen, dass sich Claudia Neumann, ihr Standing, ihr Fachwissen, hart erarbeitet hat. Sie ist fleißig, akribisch und wird belohnt für ihre harte Arbeit. Erst kommentiert sie 2011 die Frauenfußball-WM live im Fernsehen, ist 2016 Live-Reporterin bei der Fußball-EM in Frankreich und anschließend der Fußball-WM in Russland. Der Shitstorm, welcher sich bereits 2016 entfacht und 2018 während der WM eskaliert, ist geprägt durch die sexistische Natur der Kommentare. Der Titel des Buches ein mildes Beispiel für die Anfeindungen, welche über und an Claudia Neumann geschrieben werden.

Fußball-Kommentator:innen sind allgemein Zielscheibe für viele Fans, Frau Neumann ist hier keine Ausnahme und trotzdem unterscheidet sich die Art der Kritik. Neben ihrem eigenen Umgang mit den Kommentaren beschreibt Claudia Neumann den Umgang von Kolleg:innen wie Dunja Hayali, Marcel Reich oder Politikerin Renate Künast, die allesamt gerichtlich gegen Anfeindung im Netz vorgegangen sind. Sicherlich eines der eindrücklichsten Kapitel im Buch, da hier ein gesellschaftliches Dilemma offengelegt und der rechtsfrei-scheinende Raum im Internet thematisiert wird.

Offenes und ehrliches Debüt im Erstlingwerk

Frau Neumann hat mit ihrem Erstlingswerk ein offenes und ehrliches Debüt hingelegt, in welchem sie sich für „mehr vorurteilsfreie Kommunikation von Angesicht zu Angesicht“ ausspricht. Claudia Neumann Fans kommen auf ihre Kosten, Fußball-Fans ebenfalls. Feministinnen werden enttäuscht sein. Hat der Buchtitel doch Hoffnungen aufkeimen lassen, wird schnell klar, dass Frau Neumann zwar ihr Urteil über Frauenfußball revidiert hat, allerdings sich weiterhin zum Beispiel gegen eine eine Frauenquote ausspricht. Der Buchtitel, so sagt sie es selbst, ist einer Idee des Verlagshauses entsprungen. Das erklärt die Diskrepanz zwischen Titel und Inhalt. Außer einem Kapitel über Wegbereiterinnen im Fußball u.a. Tina Theune, Monika Staab, Birgit Prinz, oder Bibi Steinhaus, thematisiert das Buch die strukturelle Diskriminierung im Sport von Frauen kaum.

Ehrlich schreibt Claudia Neumann über ihre späte Politisierung und es überrascht die Vehemenz, mit welcher sie sich gegen den Status, die „erste Frau“ zu sein, wehrt. Trotzdem, oder gerade deswegen, ein sehr lesenswertes Buch, da es Frau Neumann in dem Dilemma vieler Frauen aufzeigt: das Dilemma, dass anstatt des Fachwissens, das Geschlecht in den Vordergrund rückt. Und damit schließt sich der Kreis für die Frage „Wie modern ist Deutschland wirklich?“.

Hier gibt's noch mehr Vorgeschmack zu Claudia Neumanns Buch

Erschienen in Frauen im Sportbusiness, Fußball am 04. Juni 2020

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