Mentales Training im Spitzensport: Ringerin Aline Rotter-Focken im Interview

ExklusivDie Olympia-Verschiebung bedeutet für Ringerin Aline Rotter-Focken: ein Jahr länger im Profisport. Denn eigentlich wollte die 29-Jährige danach aufhören. Was das mit der Psyche einer Leistungssportlerin macht und wie sie gelernt hat, damit umzugehen, erzählt sie im Interview.

Aus einer Ringerfamilie stammend hat Aline Rotter-Focken schon als Fünfjährige mit dem Ringen angefangen. Heute, 24 Jahre später, ist sie aus der weltweiten Ringerszene nicht mehr wegzudenken. Seit ihrem Weltmeistertitel 2014 gehört sie zur Weltspitze – und bleibt aufgrund von Corona dort auch noch ein Jahr länger. Was das für sie bedeutet und wie sie ihren Weg an die Weltspitze gemeistert hat, erzählt sie uns im Interview.

Was macht die Coronakrise mit der Psyche von Sportlern?

„Ich muss zugeben, im allerersten Moment war ich geschockt, als dann tatsächlich die Olympischen Spiele verschoben wurden. Da strengt man sich jeden Tag an und plötzlich heißt es, wir müssen noch weitere zwölf Monate dranhängen. Im selben Moment ist aber auch der Druck abgefallen, der sich in den vergangenen Monaten aufgebaut hat. Immerhin habe ich die Olympiaqualifikation schon und kann mich jetzt noch besser vorbereiten.“

Du spricht vom Leistungsdruck. Wie empfindest du den denn?

„Das ist ganz unterschiedlich. Wenn ich unmittelbar vor einem großen Kampf stehe, wie zum Beispiel im vergangenen Jahr bei den Weltmeisterschaften, da empfinde ich den Druck als besonders extrem. Da kann ich vorher nichts essen, mir ist heiß und meine Atmung schneller als sonst. In meinem Alltag als Sportlerin würde ich das aber nicht als Druck bezeichnen. Ich bin einfach insgesamt sehr perfektionistisch und versuche immer, das Beste aus mir herauszuholen.“

Aber gerade im Wettkampf kann diese Anspannung ja auch helfen.

„Klar, Ringen ist ein Kampfsport, da muss ich zu 100 Prozent da sein, wenn es losgeht. Sonst bekomme ich die erste Kopfnuss und bin schon weg. Wenn der Druck hoch genug ist, kann ich mich extrem auf meine Gegnerin fokussieren. Erst nach dem Kampf fällt dieser Druck dann wieder ab.“

"Ich bin einfach insgesamt sehr perfektionistisch und versuche immer, das Beste aus mir herauszuholen."

Dann nutzt du die Corona-Zwangspause jetzt auch, um den Kopf freizubekommen?

„Eigentlich wollte ich nach den diesjährigen Olympischen Spielen meine Karriere beenden und hatte viele andere Pläne. Schließlich arbeite ich auch als Gesundheitsmanagerin und wollte dort in Vollzeit einsteigen. Aber das muss jetzt eben ein Jahr warten. Stattdessen nutze ich die Zeit, meine kleineren Wehwehchen auszukurieren und mich psychisch zu erholen. Dazu telefoniere ich regelmäßig mit meinem Mentaltrainer und meditiere.“

Wie können wir uns mentales Training vorstellen?

„Das mache ich auch während Wettkampfphasen, nur bleibt neben dem normalen Training oft nicht genügend Zeit. Ich sehe mir zum Beispiel Videos von Gegnerinnen an, stelle mir mental die Kämpfe, also bestimmte Techniken, Kampfstile und Aktionen vor. Oft mache ich das unbewusst. Zu Beginn meiner Karriere habe ich auch mit einem Sportpsychologen gearbeitet und zum Beispiel viel über das Thema Neid gesprochen, aber auch über Leistungsdruck, und wie ich besser damit umgehen kann. Durch meine Erfolge hatte sich meine Rolle in der Mannschaft verändert. Als ich 2014 Weltmeisterin wurde, war ich auf einmal Leistungsträgerin im Team. Das war für mich und andere Athletinnen und Athleten eine neue Situation.“

Der WM-Titel war sicher einer deiner emotionalsten Karriere-Momente.

„Das ist schwer zu sagen. Der WM-Titel war natürlich ein besonderer Moment. Ich war damals erst 23 Jahre und ehrlich gesagt überrascht über diesen Erfolg. Wirklich emotional waren aber vor allem meine Siege, die ich zuletzt erringen konnte. Als ich jetzt nach so vielen Jahren die Olympia Qualifikation geholt habe, war das sehr besonders. Ich kam von der Matte und die anderen hatten zum Teil Tränen in den Augen. Diese Situation mit Teammitgliedern und der Familie zu teilen, vergesse ich nie. Solche Emotionen gibt es nur im Sport. Schon deswegen will ich unbedingt noch zu Olympia, bevor ich aufhöre.“

"Als ich 2014 Weltmeisterin wurde, war ich auf einmal Leistungsträgerin im Team. Das war für mich und andere Athletinnen und Athleten eine neue Situation."

Haben sich die psychischen Faktoren im Laufe deiner Karriere verändert?

„Das Bewusstsein für die mentalen Faktoren im Training ist mit den Jahren größer geworden. Ich habe zu Beginn schon als Zwölfjährige viel davon unterbewusst gemacht, zum Beispiel Videos analysiert. Seit ich aber Teil der Weltspitze bin, lege ich mehr Fokus darauf. Schließlich sind die Erwartungen immer höher geworden. Und Ringen verliert man ganz schnell mal im Kopf.“

Dann ist Olympia jetzt noch dein letztes großes Ziel?

„Ja, definitiv. Wobei ich jetzt wahrscheinlich auch die Europameisterschaften noch mitmachen werde. Der Titel fehlt mir noch, den habe ich nur im Nachwuchs gewinnen können. Drei Jahre lang bin ich ganz knapp gescheitert. Bei Olympia will ich aber auf jeden Fall in der Form meines Lebens sein. Ich will mir nichts vorwerfen können und so kann ich mich auch während Corona jeden Tag wieder motivieren.“

Was sagt dein Umfeld, dass du noch ein Jahr länger weitermachst?

„Die Reaktionen waren gemischt. Mein Trainer begrüßt die Möglichkeit, dass wir uns ein Jahr länger vorbereiten können. Die Teamkameraden haben sich gefreut, dass ich noch länger dabei bin. Meine Mama war etwas bestürzt und mein Mann unterstützt mich dabei. Klar, wir freuen uns beide darauf, wenn ich nicht immer an Termine und Vorgaben gebunden bin. Mein Plan war, endlich mal keinen Plan mehr zu haben. Aber das läuft ja alles nicht weg. Ich liebe Ringen und habe nun ein Jahr geschenkt bekommen.“


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Erschienen in Sportarten am 20. Juni 2020

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