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Sexualisierte Gewalt im Sport – und wieso es an Aufarbeitung mangelt

ExklusivSportjournalistin Andrea Schültke berichtet seit über zehn Jahren über sexualisierte Gewalt im Sport. Im Interview mit Sportfrauen spricht sie über ihre Arbeit, weshalb Betroffene so selten an die Öffentlichkeit gehen und die fehlende Aufarbeitung durch den organisierten Sport in Deutschland.

Mehr als 300 US-Turnerinnen bezichtigten den Teamarzt Larry Nassar des sexuellen Missbrauchs, 2018 wurde er deswegen von einem US-Gericht zu bis zu 175 Jahren Haft verurteilt. In England meldeten sich sogar über 800 Betroffene, als der Missbrauchsskandal im englischen Nachwuchsfußball der 1970er bis 1990er Jahre aufgedeckt wurde. All diese Fälle zeigen: Obwohl der Sport damals wie heute ein massives Problem mit sexualisierter Gewalt hat, wird erst seit kurzem zunehmend darüber berichtet. Eine der führenden Journalistinnen auf diesem Gebiet ist Andrea Schültke.

Wie kommt es, dass du dich in den vergangenen Jahren vermehrt dem Thema der sexualisierten Gewalt im Sport gewidmet hast?

Andrea Schültke: Es hat vor ungefähr zehn Jahren mit dem Skandal in der katholischen Kirche begonnen. Damals habe ich mich gefragt, ob diese Strukturen, die die sexualisierte Gewalt innerhalb der Kirche begünstigt haben – eine geschlossene Gesellschaft, Abhängigkeiten – denen des Leistungssports ähneln. Ich habe daraufhin angefangen, zu recherchieren und schnell gemerkt, wie groß dieses Thema auch im Sport ist. Nur, dass es damals kaum Beachtung fand.

Woran lag das?

Andrea Schültke: Es gab zwar mal vor 20 Jahren einen großen Fall im Eiskunstlaufen, aber die Berichterstattung darüber ist schnell abgeebbt. Ich denke, das liegt am positiven Image des Sports. Eltern geben ihr Kind erstmal sehr gerne in den Sport, denn dort lernen sie Werte wie Fairplay und Respekt. Deshalb kommt man vielleicht gar nicht darauf, dass auch der positive Sport negative Seiten haben könnte.

Macht das geschlossene System den Sport so angreifbar für sexualisierte Gewalt?

Andrea Schültke: Man erhält einfach keinen guten Einblick. Ich habe einige Eltern kennengelernt, die nicht aus dem Leistungssport kamen und deshalb nicht wussten, welche Verhaltensmuster normal sind und welche nicht. Wenn zum Beispiel der Trainer mit den Athlet*innen bei Auswärtsfahrten auf einem Zimmer schläft oder mit ihnen unter die Dusche geht, dann finden das sportferne Eltern vielleicht komisch. Aber wenn sich die anderen Eltern nicht darüber wundern, denken sie vielleicht, das scheint in diesem System ja normal zu sein. Im Breitensport ist das System zwar etwas offener, aber um da alles mitzubekommen, muss man schon sehr wachsam sein.

Darüber, warum hier niemand an die Öffentlichkeit geht, zerbreche ich mir seit Jahren den Kopf.

In den vergangenen Jahren erschütterten die Sportwelt immer wieder Missbrauchsskandale. In Deutschland kommen dagegen nur Einzelfälle an die Öffentlichkeit. Bietet unser Leistungssportsystem im Vergleich zu anderen Ländern genügend Schutz vor sexualisierter Gewalt?

Andrea Schültke: Nein, denn die Systeme und Strukturen ähneln sich sehr. Das zeigt auch die repräsentative Studie „Safe Sport“ aus dem Jahr 2016, der zufolge über ein Drittel der befragten deutschen Leistungssportler*innen in ihrer Karriere Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt gemacht haben. Da kann nun wirklich niemand sagen, dass es in Deutschland kein massives Problem gibt. Doch darüber, warum hier niemand an die Öffentlichkeit geht, zerbreche ich mir seit Jahren den Kopf.

Was könnten Gründe dafür sein?

Andrea Schültke: Es kommt natürlich auf das Alter an. Kinder können oft gar nicht in Worte fassen, was ihnen zugestoßen ist. Viele Betroffene gehen auch davon aus, dass ihnen sowieso niemand glauben wird. Entweder, weil Erwachsene von den Übergriffen etwas mitbekommen und geahnt haben müssen, aber nichts unternommen haben. Oder weil die Eltern womöglich mit dem Trainer befreundet sind und sich nicht vorstellen können, dass er ihrem Kind etwas antut. Ich habe mit Betroffenen gesprochen, die aus Angst, dass sich das Team auflösen würde, geschwiegen haben. Sie hätten dann das einzige verloren, das ihnen Spaß bereitet hat. Viele Betroffene brauchen auch sehr viel Zeit, um sich mit ihrer Geschichte auseinanderzusetzen.

Das scheint verständlich…

Andrea Schültke: Ja, und bis sie herausgefunden haben, was die Ursache für ihre Traumatisierungen und psychischen Erkrankungen ist – nämlich die sexualisierte Gewalt in ihrer Kindheit – vergehen manchmal Jahre oder Jahrzehnte. Wie sie anschließend damit umgehen, ist nochmal eine andere Frage. Behalte ich es für mich und versuche gesund zu werden? Oder gehe ich irgendwann an die Öffentlichkeit? Eine Betroffene sagte mir einmal, dass sie ihre Geschichte nicht mehr ungeschehen machen könne, aber sie diese erzählt, damit andere so etwas nicht durchmachen müssen.

Zum Beispiel hat sich eine Aufarbeitungskommission des Bundes im Oktober mit dem Thema beschäftigt und Betroffene zu Wort kommen lassen. Welche Rolle spielt eine gute Aufarbeitung?

Andrea Schültke: Eine umfassende Aufarbeitung ist wichtig und dringend nötig. Doch die findet bei den Verbänden und Vereinen bis auf wenige Ausnahmen nicht statt. Ich stelle mir immer die Frage, wie man Präventionskonzepte entwickeln kann, ohne zu wissen, welche Faktoren in der Vergangenheit sexualisierte Gewalt im Sport überhaupt ermöglichten. Da kommt jetzt ganz, ganz langsam etwas in Bewegung, aber bisher hat diese Aufgabe die Aufarbeitungskommission übernommen. Das ist gut, entbindet aber den organisierten Sport nicht von seiner Pflicht, seine Vergangenheit auch selbst aufzuarbeiten. Verbände wie der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) oder DFB haben zwar den an mögliche Betroffene gerichteten Aufruf der Aufarbeitungskommission auf ihre Webseiten gestellt. Der scheint aber nicht angekommen zu sein. Es haben sich nämlich lediglich 93 Betroffene gemeldet und wir wissen aus Studien, dass es deutlich mehr sein müssen. Deshalb müssen andere Wege gefunden werden, wie man Betroffene erreicht. Man könnte zum Beispiel, so wie die Kirche es tat, externe Kanzleien beauftragen.

Eine Betroffene sagte mir einmal, dass sie ihre Geschichte nicht mehr ungeschehen machen könne, aber sie diese erzählt, damit andere so etwas nicht durchmachen müssen.

Hätten Betroffene überhaupt eine Chance auf finanzielle Entschädigung, zum Beispiel durch den DOSB?

Andrea Schültke: Was Entschädigungen angeht, ist der DOSB freundlich formuliert zurückhaltend. Er könne sich das nicht leisten, gab die DOSB-Vizepräsidentin Petra Tzschoppe in einem Interview zu bedenken. Außerdem sehe der organisierte Sport das nicht als seine Aufgabe an, denn dafür sei das Opferentschädigungsgesetz des Bundes zuständig. Betroffene haben mir jedoch von ihren Erfahrungen damit berichtet. Deren Anträge wurden oftmals abgelehnt, da sie ihre Traumatisierungen und massiven gesundheitlichen Probleme nicht als eine direkte Folge der sexualisierten Gewalt nachweisen konnten. Andere haben es aufgrund des gewaltigen Aufwandes direkt gelassen, weil sie seelisch und körperlich dazu gar nicht in der Lage waren. Diese Variante der Entschädigung kommt also für die allermeisten nicht infrage.

Du hast vorhin Präventionskonzepte erwähnt. Was hältst du von der Präventionsarbeit des organisierten Sports, zum Beispiel im Fußball oder Reitsport?

Andrea Schültke: Es gibt beim DFB die klare Stellungnahme, dass sexualisierte Gewalt auch im Fußball passieren kann. Außerdem stellt er seine Präventionskonzepte online zur Verfügung. Das ist ja schon mal etwas. Auch bei der DFL kommt endlich Bewegung rein. Vereine mit Nachwuchsleistungszentren müssen neuerdings ein Kinderschutzkonzept erarbeiten. Aber das kommt für meine Begriffe alles sehr schleppend in Gang. Im Reitsport ist die Liebe des Mädchens zu seinem Pferd ein großes Thema. Dass diese Beziehung leicht von Tätern ausgenutzt werden kann, hat der Verband schon früh erkannt und Präventionskonzepte ins Leben gerufen. Doch wie die Präventionsarbeit in den einzelnen Ställen oder Vereinen ankommt, ist nicht zu überprüfen. Die „Safe Sport“-Studie fand 2016 heraus, dass nur 50 Prozent der Vereine das Thema Kinderschutz als wichtig erachten. Wie es heute aussieht, weiß man jedoch nicht genau.

Laut der „Safe Sport“-Studie nehmen Vereine die Präventionsarbeit ernster, wenn Frauen im Vorstand sind. Täter sind demnach mehrheitlich männlich. Würde sich etwas ändern, wenn mehr Frauen in Trainer- und Führungspositionen vertreten wären?

Andrea Schültke: Da bin ich mir ziemlich sicher, aber das muss man natürlich erstmal hinbekommen. Schaut man sich die Vorstände an, sind dort kaum Frauen vertreten. Gerade gibt es einen Verdachtsfall im Boxen. Wir haben herausgefunden, dass es im ganzen Leistungssport Boxen nur eine Trainerin gibt, und auch in den Vorständen sind hauptsächlich Männer. Das ist eine Männerdomäne. In anderen Sportarten ist es genauso, mal mehr, mal weniger. Bis sich das ändert, dauert es.

Es war kaum zu ertragen, die Anklageschrift zu hören.

Du recherchierst seit mehr als 10 Jahren zu diesem Thema. Ist dir ein Fall besonders im Gedächtnis geblieben?

Andrea Schültke: Ich nehme oft an Gerichtsverfahren teil. In einem der Fälle durfte der Jugendwart eines Angelvereins auf dem Gelände einen Wohnwagen abstellen. Die Kinder fanden diese Abenteueratmosphäre ganz toll, der Jugendwart hat zum Beispiel Nachtangeln mit ihnen veranstaltet. Aber da sind die schrecklichsten Straftaten passiert. Es war kaum zu ertragen, die Anklageschrift zu hören. Bei der Urteilsverkündung waren die Kinder – der Jüngste war zur Tatzeit sieben Jahre alt – anwesend. In dem Moment habe ich mich gefragt, wie die Kinder und deren Familien das ertragen und damit fertig werden können. Da kommen einem wirklich schon die Tränen.

Was passierte mit dem Jugendwart?

Andrea Schültke: Er ist anschließend zu zehn Jahren Haft verurteilt worden. Das war die höchste Haftstrafe, die ich bisher erlebt habe, was sexualisierte Gewalt im Sport angeht. Schwer beeindruckt hat mich auch eine Fußballerin, die ich seit zwei Jahren kenne und über die ich berichten durfte. Sie hat Jahrzehnte gebraucht, um ihre Geschichte aufzuarbeiten und einen Schritt nach den anderen zu gehen. Nun konnte sie es sogar, zwar anonymisiert, aber öffentlich vor der Aufarbeitungskommission sprechen. Es ist beeindruckend, wie die Betroffenen es schaffen, sich die Teilhabe am Leben zurückzuerobern.

Nach all dem, was du durch deine Recherchen erfahren hast: Würdest du deine Kinder noch zum Sport schicken?

Andrea Schültke: Das ist schwierig, ne? Aber wo kannst du deine Kinder dann überhaupt hinschicken? Zum Einzel-Musikunterricht, wo du nicht dabei sein kannst? Zum Kommunionsunterricht oder zu den Pfadfindern? Überall, wo Erwachsene mit Kindern zu tun haben, besteht eine potentielle Gefahr. Deshalb muss ich den Verein überprüfen: Gibt es ein Kinderschutzkonzept? Wie ist die Trainer*innen-Situation? Gibt es Regeln für das Duschen oder Übernachten bei Auswärtsfahren? All diese Dinge sollte man vorher als Eltern abklopfen und sich einen Überblick verschaffen. Doch dazu müssen Eltern erstmal über das Thema Bescheid wissen damit sie diese Fragen stellen können. Dadurch würde auch der Druck auf die Vereine erhöht werden, selbst tätig zu werden in Sachen Kinderschutz. Der organisierte Sport sollte die Eltern im Rahmen der Prävention miteinbeziehen. Doch diese Entwicklung geht sehr langsam voran.

Vielen Dank für das Interview!

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Andrea Schültke (Jg. 1963) ist Journalistin und berichtet seit 1994 vom Sport, u.a. für den WDR und Deutschlandfunk. Foto: Bettina Fastré

Katarina Schubert

Katarina Schubert

Erschienen in Badminton, Basketball, Bergsport, Biathlon, Eishockey, Eiskunstlauf, Football, Frauen im Sportbusiness, Fußball, Handball, Hockey/Floorball, Kampfsport, Langlauf, Leichtathletik, Motorsport, Para Sport, Radsport, Schwimmen, Ski Alpin, Ski Cross, Skispringen, Snowboard, Tennis, Tischtennis, Turnen, Volleyball, Wassersport, Wintersport am 07. Dezember 2020

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