Radsport

Kristina Vogel im Interview: Dank Leistungssportler-DNA wieder zurück im Leben

ExklusivEin Trainingsunfall veränderte 2018 das Leben von Olympiasiegerin Kristina Vogel schlagartig. Mit Sportfrauen spricht sie über die Zeit danach, Olympia in Tokio und darüber, dass beim Thema Inklusion noch sehr viel Nachholbedarf in Deutschland besteht.

Zweifache Olympiasiegerin, elffache Weltmeisterin – Kristina Vogel war 2018 die erfolgreichste Bahnradsportlerin der Welt. Doch der 26. Juni 2018 ändert ihr Leben auf einen Schlag. Ein Trainingsunfall, bei dem sie mit einem anderen Fahrer zusammenstößt, lässt sie querschnittgelähmt zurück. Von einem Tag auf den anderen ist ihre Leistungssportkarriere beendet.

Doch Kristina Vogel kämpft sich mit viel Disziplin und Optimismus zurück. Heute ist sie als Trainerin tätig und setzt sich in ihrer politischen Arbeit für Menschen mit Behinderung ein. Davon, aber auch von ihrer erfolgreichen Bahnradkarriere, erzählt sie in ihrer Autobiographie „Immer noch Ich. Nur anders“, welche 2021 erschien.

Frau Vogel, Sie haben Ihre Autobiographie „Immer noch Ich. Nur anders“ veröffentlicht. Wie fühlt sich das an?

Vogel: Ich war schon ein bisschen nervös, da ich sehr viele intime Dinge preisgegeben habe. Aber bisher ist das Feedback gut. Die Leute, die es bereits gelesen haben, mögen es sehr.

War das Schreiben eine Art Therapie?

Vogel: Teilweise ja. Ich habe diverse Momente in meinem Leben schon sehr reflektiert und bin sehr, sehr tief gegangen, was man ja normalerweise nicht so macht. Von daher war es schon manchmal eine Art Therapiestunde, aber es war auch gut, mich wieder an schöne Momente, die ich im Leben hatte, zurückzuerinnern.

War Ihnen nach dem Unfall sofort klar, dass Ihre Leistungssportkarriere wohl beendet sein wird?

Vogel: Darüber habe ich in diesem Moment gar nicht nachgedacht, denn es ging erstmal darum, den Unfall überhaupt zu überleben. Es stand allerdings schnell fest, dass es mit dem Leistungssport vorbei ist. Auch weil ich wahrscheinlich nicht die Kraft gehabt hätte, mich mit diesen schwerwiegenden Verletzungen zurück zu kämpfen. Und als Radsportlerin braucht man ja auch funktionierende Beine.

Hat Ihnen bei der Reha geholfen, dass Sie zuvor Leistungssportlerin waren?

Vogel: Sicherlich. Ich konnte auf ein ganz anderes Muskelpensum zurückgreifen. Auch mental war es von Vorteil. Als Leistungssportlerin weiß ich einfach, dass es sich zu kämpfen lohnt. Dass man beim Training nicht jeden Tag den Erfolg sofort sieht, dass er aber schon kommt, wenn man dranbleibt. Jeden Tag den Schweinehund bekämpfen und ans Äußere gehen – das ist halt Leistungssportler-DNA. Ich glaube schon, dass es mir geholfen hat.

Vermissen Sie den Leistungssport oder das Radfahren?

Vogel: Ich fahre jetzt anstatt mit dem Fahrrad einfach mit dem Handbike. Was den Leistungssport angeht: Jein. Ich vermisse nicht, was der Leistungssport mit mir gemacht hat, den ganzen Druck. Aber das Drumherum fehlt mir schon. Es ist zum Beispiel schwieriger geworden, meine Freunde, die auf der ganzen Welt verstreut sind, zu treffen. Und es war natürlich auch toll, auf dem Podest zu stehen und Medaillen zu gewinnen. Aber meine Karriere war lang genug und ich habe viel gewonnen. Mir geht es gut, ich genieße jetzt die Perspektive von außen. Außerdem habe ich meine A-Trainerlizenz gemacht und bin jetzt Trainerin bei der Spitzensportfördergruppe der Bundespolizei. Ich bin also nicht weg.

Jeden Tag den Schweinehund bekämpfen und ans Äußere gehen – das ist halt Leistungssportler-DNA.

Sie treiben also selbst noch regelmäßig Sport?

Vogel: Ja klar, Sport ist wichtig für jeden. Durch Sport ist man resistenter gegen Stress und Krankheiten, das Lebensgefühl ist besser. Es muss ja nicht jeder Leistungssportler sein, aber ein bisschen Sport tut immer gut. Wann immer es geht, versuche ich Bewegung in meinen Alltag einzubauen. Aber das ist wirklich schwer! Das war mir als Leistungssportlerin vorher gar nicht so bewusst. (lacht)

Ihr Buch liest sich manchmal so, als seien sie fast dankbar für den Unfall.

Vogel: Ja, tatsächlich. Ich darf wunderbare Dinge erleben. Außerdem habe ich gelernt, stolz auf mich zu sein. Das war vorher im Leistungssport nie der Fall, da habe ich mich mehr getrieben gefühlt. Der Unfall war auch eine Art Wachrüttler: Ich dachte früher immer, „Ich muss“, aber das muss ich ja gar nicht. Ich handle heutzutage einfach aus einer anderen Motivation heraus. Ich genieße meine Freiheit, Dinge tun zu können, die Spaß machen und damit auch noch etwas bewegen zu können. Und auch Gutes zu tun, für mich und andere. Das ist echt schön.

Sie erzählen in Ihrem Buch auch von Momenten, in denen sie sich als Frau mit Behinderungen unsichtbar fühlen und sprechen die Missstände für Menschen mit Behinderung in Deutschland an. Was muss sich ändern?

Vogel: Viel, richtig viel. Es läuft noch so vieles falsch. Wer glaubt, dass es mit der Inklusion und Diversität in Deutschland gut läuft, der ist blind. Ob das die Black Lives Matter-Bewegung, die LGBTQ+-Szene oder behinderte Menschen sind, es gibt hier einfach immer noch viel Diskriminierung. Das fängt damit an, dass Nicht-Behinderte auf Behindertenparkplätzen parken und hört noch lange nicht damit auf, dass ich mir als behinderter Mensch nicht aussuchen kann, welche Schulbildung ich möchte oder wo ich arbeite. Firmen feiern sich für ihre Diversitäts- und Inklusionsprojekte, dabei sollte das einfach selbstverständlich sein.

Möchten Sie mit ihrer Bekanntheit und ihrer politischen Arbeit auf dieses Thema aufmerksam machen?

Vogel: Ich hoffe, dass ich das tue und zum Nachdenken anrege. Klar, ich hätte nach dem Ende meiner Leistungssportkarriere in den Vorruhestand gehen können, aber erstens wäre das sehr langweilig geworden und zweitens bin ich ja noch voll einsatzfähig. Natürlich benötige ich an meinem Arbeitsplatz ein, zwei Dinge, aber ansonsten bin ich eine vollwertige Arbeitskraft. Ich trete nur anders auf. Das ist das einzige, was mich von anderen Menschen unterscheidet. Es muss ein Bewusstsein dafür geschaffen werden, dass man, nur weil man behindert ist, keine verminderte Arbeitskraft ist. Hier geschieht noch viel Diskriminierung.

Fühlen Sie sich von der Corona-Politik ausgeschlossen?

Vogel: Sicherlich. Risikogruppe ist nicht immer gleich Risikogruppe. Behindertenwerkstätten und Inklusionssportgruppen sind für viele Menschen die einzige Möglichkeit, um in der Gesellschaft stattzufinden. Und hier wird mal wieder das schwächste Glied vergessen.

Es muss ein Bewusstsein dafür geschaffen werden, dass man, nur weil man behindert ist, keine verminderte Arbeitskraft ist. Hier geschieht noch viel Diskriminierung.

Sie wollten Ihre Karriere eigentlich nach den Olympischen Spielen in Tokio beenden. Schauen Sie sich die Spiele nun mit einem weinenden und lachenden Auge an?

Vogel: Ich nehme ja an den Spielen in Tokio teil, nur nicht als Sportlerin, sondern als Expertin und Co-Kommentatorin für das ZDF. Und Stand jetzt darf ich tatsächlich nach Tokio fliegen. Ich freue mich darauf, den Zuschauer*innen die Faszination Bahnradsport näher bringen zu können und die Spiele mal aus einer anderen Perspektive zu erleben. Klar, es wird nicht das Olympia, das ich kennengelernt habe, glitzernd und atemberaubend, aber als Athlet oder Athletin ist man, glaube ich, überhaupt froh, wenn es stattfindet und man ein bisschen Olympia-Atmosphäre schnuppern kann.

Also sollten die Spiele in Tokio trotz Corona-Bedenken stattfinden?

Vogel: Auf alle Fälle. Denn für die Athlet*innen ist es wirklich schwierig. Die Verschiebung um ein Jahr war schon eine Meisterleistung, die Auswirkungen dessen werden wir dann bei der Medaillenvergabe im Sommer sehen. Die älteren Athlet*innen, die 2020 eigentlich auf dem Höhepunkt ihrer Karriere gewesen wären, schaffen es vielleicht nicht mehr, diese Leistungen auch ins neue Jahr rüberzubringen. Und die Jüngeren haben nun ein Jahr mehr geschenkt bekommen. Die Wettkämpfe werden ganz andere sein. Aber ich bin davon überzeugt, dass das IOC gute Corona-Konzepte erarbeitet haben. Ich kann allerdings auch die Bedenken der Bevölkerung nachvollziehen. Für uns Lockdown-Geplagte wäre es doch aber super, wenn etwas Tolles im Fernsehen läuft. (lacht)

Was trauen Sie den deutschen Bahnradsportlerinnen in Tokio zu?

Vogel: Man muss im Bahnradsport auf jeden Fall auf die Frauen schauen. Die haben sich in den letzten Jahren ganz schön gemausert. Vor allem in der Mannschaftsverfolgung haben die Mädels echte Chancen auf eine Medaille. Das wäre grandios, denn es wäre die erste deutsche Medaille, seit es diese Disziplin bei Olympia gibt.

Haben Sie einen Lieblingsmoment, wenn Sie an ihre aktive Karriere zurückdenken?

Vogel: Zwei Goldmedaillen bei Olympischen Spielen zu gewinnen, ist schon sehr cool. Jetzt aber einen Moment zu nennen, ist wirklich schwierig, weil sie alle für mich besonders sind. Auch nach dem Unfall habe ich tolle Dinge erleben dürfen. So habe ich mir zum Beispiel noch im Krankenhaus eine „Bucket List“ gemacht, wo ich nach wie vor Haken dransetzen kann. Das sind schöne Momente, in denen ich mal etwas Verrücktes erlebe, ganz für mich allein.

Katarina Schubert

Katarina Schubert

Erschienen in Radsport am 11. Juni 2021

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