Gegen den Schmerz laufen – Was ist dran an dem Trainingsmythos?

SerieIn Teil 2.1 unserer Serie "Von Mythen und anderen Trainingsirrtümern" schreibt Navina Pertz darüber, ob es sinnvoll ist zu trainieren, bis etwas weh tut oder wenn schon etwas weh tut, weiterzumachen. Dafür müssen wir verstehen, wie Schmerzen entstehen und welche Rolle das Gehirn dabei spielt.

Vorab: Schmerzen erfüllen einen sinnvollen Zweck. Das Gehirn hat aus irgendeinem Grund entschieden, dass es mit der Situation unzufrieden ist und reagiert mit dem schmerzhaften Wunsch nach Veränderung. Um die Schmerzen wieder abklingen zu lassen, müssen wir herausfinden, warum das Gehirn die Situation so einschätzt.

Schmerzen können einen Kreislauf auslösen

Schmerzen lenken unsere Aufmerksamkeit auf Veränderungen und Verhaltensweisen, die uns eventuell gefährlich werden könnten. Auch können wir so über das Ausmaß und die Art der möglichen Gefahr informiert werden. Ist zum Beispiel die Herdplatte nur warm oder doch so heiß, dass Verbrennungen drohen? Aufgrund von fehlendem Wissen und mangelndem Verständnis lösen Schmerzen meist Unsicherheit, Unzufriedenheit und Angst aus. Schmerzen können eine Eigendynamik entwickeln, so dass der Körper immer empfindlicher auf Reize reagiert und ein Kreislauf aus Schmerzen und Reizen entsteht, dem man nicht so einfach entkommen kann. In einem solchen Kreislauf sieht man allein oft keinen Ausweg mehr – und negative Gedanken verschlimmern den Kreislauf.

Wenn mir beispielsweise nach langem Sitzen der Rücken immer schmerzt, heißt das nicht, dass das Gewebe kaputt gegangen ist, sondern vorerst nur, dass mein Körper nicht so lange sitzen möchte. Mein Körper wird dies eine Weile aushalten und wegstecken können. Wenn aber die Signale stärker werden und mein Körper mir schon hundert Mal gesagt hat: „Bitte sitz nicht so lange“, dann wird er beim hundertersten Mal deutlicher. Es schmerzt. Auch in diesem Fall muss nicht gleich etwas am Gewebe kaputt gegangen sein, aber das Signal wird ernster und intensiver und ich sollte zu einer Veränderung tendieren. Ob es in unserem gewählten Beispiel zu der Handlung führt, dass ich weniger sitze oder dass ich einen besseren Ausgleich zu meinem vielen Sitzen finde, ist erst einmal zweitrangig.

Warnsignale nicht ignorieren

Der erste Schritt in Richtung Schmerzlinderung ist bereits getan, wenn ich mich damit befasse. Denn wenn ich nichts ändere und die Warnsignale regelmäßig ignoriere, laufe ich Gefahr, mir langfristig zu schaden. Beispielsweise nach einem Unfall kann unser Gehirn Schmerzen zu empfinden als hinderlich einstufen und dämpft sie. Gegensätzlich hierzu steht der Schmerz, den ein kleiner Papierschnitt verursacht. Beides steht in keinem Verhältnis zu der möglichen Verletzung. Das heißt, die Gewebeschädigung ist nur ein Teil des Ganzen.

Der Körper nimmt alle Signale aus der Umwelt und aus unserem Körper auf. Hierbei spielen vor allem die Sinne eine große Rolle. Das zentrale Nervensystem analysiert die Signale ausführlich. Dazu gehört die Analyse des Gewebes, des (Schmerz-)Gedächtnisses, der Emotionen und der Wahrnehmung. Auch müssen mögliche Konsequenzen des Handelns einbezogen werden. Ob es letztlich zu Schmerzen kommt, entscheidet allein das Gehirn. Wenn das Gehirn den Input verarbeitet und als Gefahr eingestuft hat, dann lautet der Output: Schmerz.

Schmerzen als wichtige Schutzfunktion

Wir müssen also lernen auf unseren Körper zu hören. Schmerzen sind unsere mächtigste Schutzfunktion, in die wir weder sinnlos reintrainieren noch gegen die wir anlaufen sollten. Wir sollten diese Schutzfunktion als Teil von uns sehen. Wenn wir verstehen, was der Schmerz uns sagen will, kommen Körper und Geist besser in Einklang. Oft ist dies ein sehr langwieriger Prozess, bei dem es zu schmerzlichen Aufarbeitungen und Erkenntnissen kommen kann. Professionelle Hilfe in Form von Ärzten und Therapeuten für Physis und Psyche sollten bei Bedarf immer hinzugezogen werden. Denn ebenso wie das Schmerzempfinden ist auch die Genesung von vielen Faktoren, wie Umfeld, Vertrauen zum Therapeuten und Hoffnung auf den Therapieerfolg abhängig.

Gerade Frauen wird oft gesagt, sie bilden sich Schmerzen nur ein und die Schmerzen seien psychischer Natur. Doch wie wir nun wissen, bildet man sich Schmerzen nicht ein, sondern sie sind eine Folge der Verarbeitung eines Inputs. Das Gehirn, das den Input als bedrohlich verarbeitet, reagiert folglich mit Schmerz. Warum das so ist, müssen wir herausfinden wollen. Schmerz kann oft ein Ventil sein.

Schmerzsignale richtig deuten

Wir müssen den Schmerz einschätzen lernen und nicht einfach gegen ihn anlaufen. Wir sollten ihn als Kommunikationsmittel betrachten, das uns die Möglichkeit gibt, etwas verändern zu können. Das Geschehene, das mich in die Schmerzen geführt hat, kann ich nicht rückgängig machen. Aber ich kann mein zukünftiges Verhalten anpassen. Wenn ich mich auf meinen Körper einlasse, dann weist er mir den Weg. Er gibt mir Signale, die ich richtig deuten lernen muss, um den Einklang zu finden.

„Wenn man die Natur gewähren lässt, wird sie von selbst mit allen Störungen fertig“ (Molière).

Ausblick: Im Teil 2.2 werden wir zu unterscheiden lernen, ob Schmerz immer gleich Schmerz ist und wir erfahren, wie wir besser mit der Bewegung und dem Training nach Verletzungen umgehen.

Über die Serie „Von Mythen und anderen Trainingsirrtümern“

Kein wissenschaftlicher Beitrag aber wissenschaftlich fundiert: In unserer neuen Serie erfahrt ihr wöchentlich mehr über das richtige Training. Abwechselnd klärt euch die Autorin hier über Mythen aus der Trainingswelt auf (1), gibt euch Tipps für mögliche Trainingsinhalte (2) und stellt euch ganz konkrete Übungen (3) vor. Wenn ihr zu einem bestimmten Thema Fragen habt oder Vorschläge für eine neue Folge von „Von Mythen und anderen Trainingsirrtümern“, dann schreibt uns an info@sportfrauen.net.


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Navina Pertz

Navina Pertz

Erschienen in Tipps und Tricks am 03. Juli 2020

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